Frohes Fest und ein glückliches neues Jahr!

Unsere „Weihnachtsgeschichte“ ist all‘ jenen gewidmet, die schwerkrank sind, jemanden pflegen oder ehrenamtlich begleiten. Erzählt wird sie von Doreen Pless, die Betty (Name geändert) zu Hause und im Ricam Hospiz ehrenamtlich begleitet hat.

Gestern habe ich sie zum ersten Mal besucht. Himmel, ist das eine Frau. Bisschen über 40 Kilo. Gehen bis zum Klo schafft sie noch. Ihr Rollstuhl soll in 14 Tagen kommen. Sie denkt, das ist gleich und freut sich so, dass sie fiebert. Ich denke, dass zwei Wochen eine lange Zeit sind. Nach einer Stunde war ich Doreen für Betty.
Sie ist 47 und »austherapiert«. Sie glaubt fest daran, dass sie wieder gesund wird. Das ist gut für sie. Und wird nicht sein. Betty ist präsent. Sie hat keine Zähne und lacht gern. Sie liegt in ihrem Seniorenbett, streckt die dürren Beine raus, kennt kein Schamgefühl. Schlüpfer und Vorlage zeigt sie gern vor. Wenn sie die Verstopfung besiegt hat, ist das allemal Grund zur Mitteilung. Sie überlebt gerade. Mit Kleinigkeiten wie Takt hält sie sich nicht auf. Gut so. »Haha, Doreen, in meiner Familie sind 8 Leute an Krebs gestorben. aber es war nie der gleiche. So langweilig sind wir nicht.«

Wir sind für den kommenden Dienstag verabredet. Wir sprachen über Filme, sie liebt Bollywood und natürlich den Chef von den Schönen da. Ich hab heute ein Filmplakat mit Sharouk Khan gekauft und hab das ohne Verabredung zu ihr gebracht. Sie meinte, ich soll kommen, so oft und wann ich will, sie ist ja sowieso da. Sie sprang mich an vor Freude, als ich das Plakat entrollte. Klebestreifen hatte ich von zu Hause mitgebracht. »Über mein Bett, Doreen?« »Wenn du willst, ja, aber du musst dir den Hals verrenken oder aufstehen, wenn du ihn anschmachten willst. Wie wärs gegenüber vom Bett?« »Jajajajajaja. Dann lächelt er mich gleich morgens an, wenn ich wach werde. Ich bin gespannt, was mein Freund sagt. Der wird bestimmt meckern, weil er denkt, ich hab sinnlos Geld rausgeschmissen. Ich soll doch alles für meine Medizin sparen.« »Siehste, Betty, da kannste ihn schön hochnehmen, und wenn er sich so richtig aufgeregt hat, kommste mit der Wahrheit um die Ecke.« Und so will sie es machen. Ein neues Vorhaben.
Bettys Freund Dieter kommt ca. einmal pro Woche zu Besuch. Eigentlich ist er ihr Lebensgefährte, aber er kommt mit ihrer Krankheit nicht zurecht, er kann nicht mit ansehen, wie Betty verfällt. Doch wöchentlich stellt er fest, dass Kutte das schon macht. Kutte ist Bettys Exfreund. Wenn ich bei ihr bin oder mit ihr telefoniere, ist Kutte auch da. Er kauft ein, er putzt die Wohnung, er wäscht ihre Sachen, er sitzt im Sessel und redet mit ihr und ist da. Bei meinem letzten Besuch musste Kutte zwischendurch weg. Sein Vater hatte seine Anrufe nicht beantwortet und er war besorgt, dass ihm etwas zugestoßen sei. »Fahr mal los und bring mir auf dem Rückweg einen Milchshake mit! Ist mir scheissegal, dass ich dann wieder nicht scheissen kann«, sagt Betty. Ich biete ihr an, den Shake zu holen, ich wäre in 10 Minuten zurück. »Nee nee, Doreen, wenn du schon mal da bist, dann bleib auch. Geh bitte nicht.«
Als wir alleine sind, ändert sich etwas in Betty. Sie erzählt von ihren Ängsten. Die kann sie niemandem mitteilen, sie muss stark sein. Alle machen sich doch sowieso schon Sorgen um sie und sie will, dass alles gut ist. Ich sitze im Sessel an ihrem Fußende, an der Seite des Betts steht ihr Versorgungs-Rolltischchen. Sie zählt auf:

  • Der Homecarearzt verschreibt ein wichtiges Medikament nicht – soll der Hausarzt machen. Da kommt sie aber nicht hin. sie kann nur bis zum Klo laufen.
  • Sie braucht Bettunterlagen, der Homecarearzt hat dafür kein Budget.
  • Sie hat keine Pflegestufe, das Amt nimmt sich Zeit.
  • Dieter hat schon seit geraumer Zeit auf Sex verzichtet, weil sie danach blutete. Jetzt lässt er sich kaum noch blicken und ist wieder bei seiner Exfrau eingezogen.
  • Kutte hat einen pflegebedürftigen, anscheinend dementen Vater, der jede Hilfe ablehnt, aber nicht mehr ohne Hilfe leben kann, eine krebskranke Tante und auch noch sie, Betty, am Hals.
  • Sie will ins stationäre Hospiz, darf das aber niemandem erzählen, weil dann alle denken, dass sie zum Sterben dahin geht.

Sie ist froh, dass sie mich als Freundin hat, zu mir kann sie offen sein. Es fliesst aus ihr heraus, die Tränen strömen. Ich höre zu, ich beruhige, ich bin ganz bei ihr. Ich schaffe es nicht, ihr Medikamentenwägelchen beiseite zu schieben, mich neben sie zu setzen und sie in den Arm zu nehmen. Ich schaffe es einfach nicht. Zu flehend der zahnlose Mund, zu dürre der halbnackte Unterkörper. Ich weiss nicht, was genau mich abhält, aber ich kann mich in dem Moment nicht überwinden. Vielleicht habe ich Angst davor, dass sie sich an mich klammert.
Später koche ich Tee für Betty und sie beruhigt sich. Ich gehe mit einem guten Gefühl und denke trotzdem, etwas falsch gemacht zu haben. Etwas versäumt zu haben. Weiss nicht. Das hier sind nur Umrisse; zu erzählen gäbe es soviel mehr. Das Gröbste muss aber erstmal raus aus dem Kopf.
P.S. Die organisatorischen Sachen wie Pflegestufe, Medikamentenversorgung habe ich selbstverständlich sofort an kompetente Stellen weitergegeben. Mit Erfolg. Zumindest das geht jetzt zügig voran. Auf dem Heimweg entging mir der Anruf von Betty. Zuerst ein kleiner Schreck, als ich ihre Nummer sah, dann: OK. Wenn sie selbst anruft, kann es ja nicht allzu dramatisch sein.
ich hatte sowieso vor, sie anzurufen, da ich für morgen absagen muss. die letzten 5 Tage habe ich keuchend und schnaufend und fiebernd im Bett verbracht. Ich huste und schnoddere noch immer und das letzte, was ich ihr antun möchte, ist ein Virus.
Sie freut sich, es geht ihr relativ gut. Sie hat seit Samstag einen Rollstuhl und war schon draussen. Allein kann sie sich nicht fortbewegen, aber Kutte ist ist ja da. Ich freue mich für sie, weil ja doch mal mit der Krankenkasse etwas klappt. »Nein nein, Doreen, die Kasse hat nie einen Antrag vom Amt erhalten, die waren ganz überrascht.« Würde sie jetzt einen Antrag stellen, könnte sie in ca 9 Monaten mit dem Rollstuhl rechnen. Und da kam Kutte ins Spiel: Er kaufte die »Zweite Hand«, sie haben telefoniert und zusammengelegt, jeder 45 Euro. Sie ist glücklich.
»Wie heisst nochmal die Amt-Tante, Betty? Rottenmeyer, oder?« frug ich sie. Und da kicherte sie los. Hahahahaha, so ähnlich, Doreen. Ein österreichisch klingender Name ist es, deswegen denke ich immer an Frl. Rottenmeyer. Eine doofe, ignorante Matrone, die in ihrem Amt ihren Job macht. Anlaufstelle, Hilfsstelle, Beratungsstelle. Jaja. Wichser. Einen Scheiss kümmern die sich. Wurscht. Vorerst.
Betty hatte sich in ‚Frl. Rottenmeyer‘ verstiegen. »Dann bin ich ja jetzt Klara,« sagt sie zu mir. »Klar, du bist genauso zart und hast rotbraune Haare«. »Und einen Rollstuhl, in dem du mich auch mal schiebst. Und du bist Heidi, du hast so schöne kurze schwarze Haare.«
»Genau, und die Rottenmeyer kann uns mal, die blöde Kuh.« Betty gluckst und kichert und lacht laut. Ich huste. Ich verabschiede mich später mit »Tschüss, Klara«. Sie ist hingerissen, ich spüre es durchs Telefon. »Tschüss, meine Süsse,« sagt sie.
Vom Hermannplatz ist es nicht weit zu Betty, Ich rufe sie an, vielleicht hat sie einen Wunsch. Ja, einen Vanillemilchshake. Aber gern, wird serviert!
Schwach und zugedröhnt ist sie. Vor einigen Tagen wurde die Dosis erhöht, die Schmerzen waren nicht mehr zu ertragen. Ab und zu fallen ihr die Augen zu, aber sie will nicht, dass ich gehe. Sie erzählt, dass sie fast den ganzen Tag verschläft, aber nachts mit Kutte gern Dame spielt. Kutte ist ein Schatz. Er kann ihren Freund, der sich nur sporadisch sehen lässt, nicht ausstehen. Kutte ist schlicht in seinem Wesen und sehr liebevoll. Er vergöttert Betty.
Betty registriert genau, wie es um sie bestellt ist. Sie hat auch keine Scheu, es auszusprechen. »Doreen, ich bin am Tag jetzt oft zu müde, auf´s Klo zu gehen. Ich merke, dass ich pinkeln muss, und kann nicht mehr aufstehen. Ich schlafe ein. Ein Glück, dass ich die Vorlagen habe, sonst würde ich ständig alles vollpissen.«
Richtig wach ist sie zweimal, während ich bei ihr bin. Der Kater, der bei Kuttes Vater lebt, ist bei ihr, weil Vater im Krankenhaus ist. Er verkriecht sich, ich klettere vorsichtig auf den Sessel, unter dem er liegt, und fotografiere ihn. Betty freut sich über das Bild und lacht. Ich verspreche ihr, ein Din A4-Bild daraus zu machen für ihre Wand, an der bisher nur Sharouk Khan hängt. Dann fotografiere ich sie und anschließend Kutte. Auch für die Wand. Beide lächeln. Kutte sagte vorher noch Bescheid, dass er nicht lachen kann, er hat ja keine Zähne. Macht nichts, »Kutte, hältste mal kurz den Rand.« Sie finden die Fotos toll und auch die soll ich für die Wand vergrößern. Normalerweise bin ich einmal pro Woche ca. 2 Stunden beim Patienten. Bei Betty ist das etwas anders. Ich kann nur nach der Arbeit kommen und da ist es dunkel. Keine gute Zeit, um im Rollstuhl bei Sprühregen um den Hermannplatz zu kreisen. Darum schlage ich ihr vor, am Samstag nachmittag wieder da zu sein. Sie möchte in den Park nebenan, sie möchte zu Karstadt »Ganz nach oben in die Musikabteilung«. Sie möchte in eine Kneipe, in der sie früher oft Zwiebelkuchen aß, und sich den Wanst vollschlagen. Genau das ist unser Schlachtplan für Samstag. Bei Sonne: Park und Kneipe und evtl. Karstadt. Bei Regen: Karstadt und Kneipe. Kutte haben wir großzügig frei gegeben. Nur wenn wir hacke sind, lallte Betty mit verstellter Stimme, dann, aber auch nur dann dürfe er uns auslösen. Und dann lachte sie aus vollem Herzen. Die Frau ist ein Sonnenschein.

Vor einigen Tagen wurde Betty die Pflegestufe eins bewilligt. Für Medikamente zahlt sie noch immer dazu. Ein Schwerbehindertenausweis wird ihr nicht ausgestellt, weil sie kein Foto beibringen kann.

»Soll ich dich mitnehmen?« frug mich mein Lieblingskollege. »Ja gern, aber ich muss erst in die Potsdamer Straße. Da gibt es einen indischen Laden, der Chef-Sharouk-Parfum verkauft. Betty hat sich das zu Weihnachten gewünscht.« Er macht den Umweg für mich. Am Tag davor habe ich Betty besucht. Sie würde so gern die Brunokatze und das Kind kennenlernen und am Weihnachtsbaum sitzen und Kaffee trinken mit uns. Das Problem mit der Scheisserei musste ich ansprechen. Ich kann nicht mal einen mageren Bettyarsch abwischen. Also, wie machen wir das? »Ich brauche nur eine Stütze,« sagt sie. »Du musst mich halten. Ich nehme genügend Windeln mit. Eventuell musst du hinten hochhalten, damit ich vorn zusammenkleben kann und das Zeug nicht verrutscht. Und ein paar alte Handtücher auf deiner Couch wären gut, falls doch etwas daneben geht. »OK, Betty, das kriegen wir hin.«
Auf der Heimfahrt hielt ich das Parfum in der Hand, versprühte es zur Probe im Auto, handelte mir vom Kollegen einen Anschnauzer ein: »Mann, du blöde Trulla, morgen fährt meine Frau hier wieder mit. Die macht mir eine Szene, weils nach Parfum riecht!«

Ich hab mit Betty telefoniert. »Prinzessin, ich hab ein Auto organisiert und morgen ist Heiligabend,. Das heisst, ich hab 4 Tage frei. Such dir einen aus, es gibt Kaffee und Baum und Geschenke und warm.« Sie hat gejuchzt. Ja, gejuchzt. Endlich klappt es. Der 26. 12. sollte es sein. »OK, Kleene, ich hol dich gegen 13 Uhr ab.« » Jajajajajaja!« Das waren tolle Tage, die ihr bevorstanden. Heiligabend mit Feier im Hospiz. Ihr Freund konnte nicht kommen, der musste zu seinen Enkeln. Ich saß neben ihr, als sie ins Telefon weinte und ihn zu überreden versuchte. weil es doch ihre letzte Weihnachtsfeier sein könnte. Kutte war dann da.

Am 25. klingelte bei mir das Telefon. Die Weihnachtsente gibts bei uns nicht mittags, da schlafen wir oder kommen zu uns. Also am Nachmittag. Halb sechs hab ich das Tier mit Backpflaumen gestopft. Salzige und pfeffrige Hände. Telefon klingelt. »Kind, geh mal eben ran bitte. Das ist eine Berliner Nummer, die kenn ich nicht,« sagt er. In dem Moment hab ich es gewusst. Geh ran!
»Da ist das Hospiz dran,« sagt er. Ja, ich weiss.
»Hallo, Doreen, Betty ist soeben verstorben. Wir haben versucht, dich anzurufen.
«Ja. Danke.« Ich habe die Ente ofenfertig vorbereitet und das Kind erklärte sich bereit, den Backofen zu überwachen. Was mach ich jetzt? Ich glaubs nicht. Tot. Tot. Tot. Aber morgen wollten wir doch zusammen sein. Und ihr Sharouk-Parfum hab ich in Silberfolie verpackt und mit roten Holzherzchen beklebt. Was soll denn das jetzt?
Ich bat meinen Freund, mich zu begleiten. So wie ich war. Im Schlurzpullover und ungeschminkt. Vor ihrer Zimmertür brannte eine Kerze, daneben stand ein Blumenstrauss. Im Zimmer roch es wie immer. Ich hab mich vorsichtig genähert. Ich hatte Furcht. Sie war tatsächlich tot. So tot, dass ich ihr nicht nahe kommen konnte. Der Freund hielt mich an der Hand, und ich hab geweint. Um Betty geweint, weil ich nicht weiss, wo das, was aus ihrer toten Körperhülle raus ist, hin ist. Ich hab meinen Freund vorher gebeten, ein Foto zu machen, ich selbst konnte es nicht. Er hat ihr die Hand gestrichen und sich verabschiedet. Ich stand nur rum und hab geheult. Ich bin doch die, die für die Sterbenden da sein soll, und stark. war ich null.
Ich hab mir das Foto angesehen. Es ist gut. Alles ist gut. Nur manchmal schwer zu verstehen. Betty, machs gut, Prinzessin. 1962-2009.

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Das Ricam Hospiz gibt es seit 1998. Es war damals das erste stationäre Hospiz Berlins. Nun plant die Ricam Hospiz Stiftung ein neues Pionierprojekt – ein Tageshospiz. Denn noch immer erleben Menschen mit schwersten Erkrankungen prekäre Situationen zu Hause. Meist müssen sie dann ins Krankenhaus. Das wollen wir ändern. Und dafür brauchen wir Ihre Hilfe! Unterstützen Sie den Aufbau des Tageshospizes mit einer Spende! Die Ricam Hospiz Stiftung ist als gemeinnützige und mildttätige Organisation anerkannt und ist Trägerin des Ricam Hospizes in Berlin. Ihre Spende kommt direkt dem Projekt zugute! Jetzt spenden

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