Wir haben mit der renommierten Trauerbegleiterin Chris Paul über den Umgang mit Trauernden in unserer Gesellschaft gesprochen. Ihre beiden neuen Bücher „Wir leben mit Deiner Trauer“ und „Ich lebe mit meiner Trauer“ verlosen wir als kleines Dankeschön an Spender, die bis Ostermontag über unserer Website „www.ein-augenblick-leben.de“ für den Tageshospizaufbau gespendet haben. (Foto: (C)bilderstoeckchen)

Frau Paul, Sie sind Trauerbegleiterin und haben die Trauer sozusagen zum Beruf gemacht. Wie sind Sie dazu gekommen?
Ich habe schon immer nach einem Beruf gesucht, den ich als sinnvoll empfinde und bei dem ich den Eindruck habe, dass ich etwas tue, was die Welt ein Stück verändert. Ich habe viele unterschiedliche Berufe ausprobiert, aber was mich vor allem geprägt hat, war, dass meine erste Beziehung mit einem Tod endete. Da habe ich erlebt, wie schwer ein Trauerweg ist, wenn das Verständnis und die Unterstützung fehlen.

Viele Menschen sind sehr unsicher und hilflos im Umgang mit Trauernden. Oft haben sie haben Angst vor Floskeln und leeren Worten. Was würden Sie ihnen raten?
Ich kann da keine Standardsätze zu sagen. Ich glaube, dass die Bereitschaft, im Kontakt zu sein, das Wichtigste ist. Nicht wegrennen, nicht weglaufen, nicht nach den perfekten Worten zu suchen. Demjenigen in die Augen schauen und erspüren: Welches Wort geht mir über die Lippen?

Ist die Trauer ein viel größeres Tabu als der Tod?
In den 20 Jahren, die ich als Trauerbegleiterin tätig bin, habe ich große Veränderungen erlebt. Damals haben mir die meisten Trauernden gesagt, dass sie mit niemandem reden können und überhaupt keine Unterstützung bekommen. Heute erlebe ich, dass die eine Hälfte der  Hinterbliebenen Unterstützung erfährt, während die andere Hälfte mit Hilflosigkeit und Ablehnung konfrontiert wird. Das ist schon eine deutliche Verbesserung. Aber ich stimme zu, dass Trauerprozesse vielen Menschen Schwierigkeiten machen. Ich glaube, das liegt daran, dass sie kein absehbares Ende haben. Beim Sterben weiß man, wenn dieser Mensch tot ist, dann ist dieser Weg gegangen. Trauerprozesse sind teilweise lebenslange Prozesse. Denken wir an Leistungseinbußen, Konzentrationsschwierigkeiten, Traurigkeit, Stimmungsschwankungen. Dafür gibt es in einer recht leistungsorientierten Gesellschaft wie der unseren wenig Toleranz und Spielraum. Und das hören die Trauernden immer noch relativ oft: „Jetzt muss es aber mal gut sein“, „Es geht dir doch schon viel besser“, und sie bleiben allein – mit ihrem Erleben der Lücke und des Schmerzes.

Denken wir an Menschen, die in ihrer Trauer nicht mehr arbeiten gehen können, vielleicht nicht einmal mehr die Wohnung verlassen möchten. Wie sind Ihre Erfahrungen, wie reagieren Arbeitgeber und Umfeld? Können wir uns in einer Leistungsgesellschaft Trauer überhaupt leisten?
Da ist der Sozialstaat schon sehr hilfreich. Viele Menschen können sich krankschreiben lassen. Es gibt Kuren, in die relativ viele trauernde Eltern gehen, weil der Verlust des Kindes sie so in der Mitte zerreißt, dass sie keinen normalen Alltag mehr gestalten können. Es gibt Begleitung, es gibt Psychotherapie, es gibt das Hamburger Modell, mit dem man auch nach einer längeren Zeit der Abwesenheit von der Arbeit schrittweise wieder reinkommt. Eigentlich muss man keine existenziellen Sorgen haben. Eigentlich geht es eher um das Selbstbewusstsein, sich zuzugestehen, dass es so im Moment nicht funktioniert. Ich habe relativ viele Klienten, die die Arbeitszeit von sich aus reduzieren und das mit ihren Arbeitgebern aushandeln. Ich höre da wirklich viele positive Beispiele, wie Arbeitgeber und Kollegen damit umgehen. Und ich bin selbst verblüfft, dass fast alle, die zu mir kommen, sagen, dass sie gute Erfahrungen mit Arbeitgebern, Kollegen und Gewerkschaften machen.

Trauernden beizustehen gehört doch eigentlich zur ‚menschlichen Grundausstattung‘. Woran liegt es, dass wir solche Schwierigkeiten haben, mit Trauernden umzugehen? Warum brauchen wir Bücher, die uns helfen zu trauern bzw. Trauernde zu stützen?
Das ist auch mein Glaube, dass Trauern zur ‚menschlichen Grundausstattung‘ gehört. Und trotzdem gibt es Menschen, die sagen: „Der Tod ist die erste Kulturleistung der Menschen.“ Der Umgang mit Verlust und den damit verbundenen Prozessen scheint eine große Aufgabe zu sein. Nicht nur für den einzelnen sondern auch für ganze Kulturen. Ich glaube, dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen sind in unserer Gesellschaft Konventionen und Rituale nicht mehr so hilfreich, wie sie es in anderen Gesellschaftsformen waren oder sind. Die Sicherheiten früherer Rituale gibt es nicht mehr.  „Aha, dann trage ich Schwarz, schreibe die und die Karte, nach einem Jahr passiert das und das…“, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Diese Sicherheit brauchen wir aber, um mit den Gefühlen und Ängsten, die der Verlust durch Tod auslöst, umzugehen. In unserer Zeit ist die Konvention eben eher: „Kauf dir ein Selbsthilfebuch!“ (lacht) Früher hat einem vielleicht die Oma erzählt, wie das geht und man hat es als Kind auf zehn Beerdigungen erlebt, weil man in einem großen Familienverband gelebt hat. Heute sehen viele Menschen mit 50 das erste Mal in ihrem Leben einen Verstorbenen und sind damit völlig überfordert. Ein Stück weit übernehmen dann Bücher die Funktion von Ritualen und Konventionen.

In ihren Büchern finden sich viele Beispiele von Menschen, die ganz eigene Trauerrituale entwickelt haben. Der Ehemann, der Gegenstände seiner Frau fotografiert, um sich von ihnen lösen zu können, oder die Ehefrau, die einen Stein mit dem Namen ihres Mannes in der Hosentasche bei sich trägt. Ist es heutzutage wichtig, individuelle Rituale zu entwickeln um einen ganz eigenen Umgang zu finden?
Überall da, wo keine gefassten Rituale da sind, bleibt uns nichts anderes übrig. Rituale sind ja zeichenhafte, symbolhafte Handlungen.  Sie scheinen für uns alle gut und hilfreich zu sein, wenn wir komplexe Gefühle und Zusammenhänge erleben und ausdrücken möchten. Und ich erlebe bei meinen Klienten und auch bei all den Menschen, die mir diese Geschichten zur Verfügung gestellt haben, dass es unglaublich beruhigend und sogar beglückend sein kann, wenn man so ein Ritual oder so ein Symbol findet. Denn dann muss man keine ganze Geschichte mehr erzählen oder denken – die Frau greift an ihren Stein. Das gibt der Hand und dem Geist etwas. Den Stein kann man anfassen, in die Tasche stecken oder eben weglegen. Das ist eine Freiheit, die wir haben, unsere eigenen Rituale zu entwickeln.

Wie kann man den Trauernden als Angehöriger oder Unterstützer ermutigen, sein eigenes Ritual zu finden?
Man kann zum Beispiel von sich erzählen, wie man das gemacht hat, als die Oma gestorben ist. Ich glaube, oft geht es um die Offenheit, sich das erzählen zu lassen. Die Leute finden das oft komisch, was sie da machen und brauchen dafür eine Art Erlaubnis, dass jemand sagt: „Das ist aber eine schöne Idee, ich glaube das probiere ich auch mal.“ Oder zum Beispiel bei den Friedhofsbesuchen: „Wäre das okay, wenn ich mit dir zusammen zum Friedhof gehe, ich würde da gerne auch mal eine Kerze anzünden. Die weißen gefallen mir nicht, ich nehme lieber eine rote.“

Was ist denn das Wichtigste, das Freunde und Bekannte für Trauernde tun können?
Da bleiben! Das ist wirklich das Allerwichtigste. Nicht zurückschrecken, da bleiben. Angebote machen und nicht sagen: „Melde dich, wenn du etwas brauchst.“
Man kann sich auch an den drei Rollen orientieren, die ich in meinem Buch skizziere: Der Fels in der Brandung, die konkrete Unterstützung und die mitmenschliche Normalität. Und ich glaube, dass es genau um das Changieren zwischen diesen drei Rollen geht. Gerade die Normalität im alltäglichen Miteinander ist unheimlich wichtig für Menschen, damit sie nicht auf ihren Verlust reduziert werden.

In ihren beiden Büchern stellen Sie das ‚Kaleidoskop des Trauerns‘ vor, das aus den sechs Trauerfacetten ÜBERLEBEN, WIRKLICHKEIT, GEFÜHLE, ANPASSUNG, VERBUNDENHEIT und EINORDNUNG besteht und den Facetten Farben zuordnet. Wie kann das Kaleidoskop Trauernden und ihren Unterstützern helfen?

Chris Paul: Wir leben mit deiner Trauer.  236 Seiten. Verlag: Gütersloher Verlagshaus. Erschienen am 27. März 2017

Chris Paul: Wir leben mit deiner Trauer. 236 Seiten. Verlag: Gütersloher Verlagshaus. Erschienen am 27. März 2017

Es ist eine Art strukturierendes Selbsthilfemittel. Denn ich betrachte die Trauerfacetten nicht als Phasen, sondern als Themenfelder, die immer wiederkehren, die man also nicht chronologisch abarbeiten kann.
Für Trauernde kann es sehr hilfreich sein, sich darüber bewusst zu werden: „Wo bin ich gerade“. Für Unterstützer kann das Kaleidoskop eine Hilfe sein, um Fragen zu stellen: „Ich habe den Eindruck, du bist gerade mit Sinnfragen beschäftigt, dazu habe ich auch Ideen, wollen wir darüber sprechen?“ Und dann kann der andere sagen: „Nein, Sinn ist gerade gar nicht mein Ding, ich bin hier mit Anpassung beschäftigt und weiß nicht, wie ich mit meinem Arbeitgeber verhandeln soll, um meine Arbeitsstunden zu reduzieren. Dabei kannst du mir helfen und das mit dem Sinn besprechen wir ein anderes Mal.“

Auch für Familien ist das gut, um sich anzusehen, welches Familienmitglied gerade auf welcher Facette unterwegs ist. Das ist ganz hilfreich, weil in Familien oft zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Themen bearbeitet werden. Und dann denkt jeder, dass die anderen nicht ‚richtig‘ trauern. Aber wenn sie sich darüber austauschen können, wer gerade auf welchem Feld ist, gibt es plötzlich eine Entspannung. Dann merken sie, dass alle trauern, aber gerade auf einem anderen Themenfeld.

Sie sprechen ja oft von Vertrauen in den Trauerprozess. Was kann denn Angehörigen von Trauernden helfen, Vertrauen aufzubauen?
Erstmal hilft es, Vertrauen in sich selber zu haben und sich an seiner eigenen Stabilität festzuhalten. Das ist ein interessantes Phänomen: Wenn man Vertrauen in sich selber hat, hat man auch ein bisschen mehr Vertrauen in die anderen. Dann hilft es auch, sich daran zu erinnern, wie der Trauernde bisher gehandelt hat, was man an ihm schätzt, wie derjenige mit Dingen umgeht, was derjenige gut kann. Es hilft, nicht problematisierend auf den Menschen zu schauen, nicht nach dem Motto „Das müsste aber alles anders laufen“, sondern eher mit einer Art Neugierde: „Wie macht der das jetzt? Ah, der geht spazieren, interessant. Eigentlich ganz schlau, dann ist er in Bewegung und Vitamin D wird gebildet. Und wie macht der das noch? Ah, der arbeitet nicht, das ist interessant, der war immer so wahnsinnig leistungsorientiert, jetzt entwickelt der andere Werte, eigentlich auch gut. Ich dachte schon länger, dass der weniger arbeiten sollte.“

Also ein ganz anderer Umgang, weg von dem Problem und dem Bestreben, schnelle Lösungen zu finden, sondern im wahrsten Sinne des Wortes das ‚Begleiten‘?
Genau! Und sehen, dass alles, was der Mensch macht, bereits Lösungsversuche sind. Die passen mir vielleicht nicht in den Kram oder sind ungewöhnlich, aber die Menschen tun ja die ganze Zeit etwas, um diesen schrecklichen Verlust irgendwie für sich zu verarbeiten. Sie transformieren diese fürchterlichen Erfahrungen.

Frau Paul, vielen Dank für dieses Gespräch. Sie unterstützen auch unsere Aktion „Ein Augenblick Leben“ für den Aufbau des Tageshospizes. Welchen Augenblick würden Sie jemandem schenken, dem nur noch wenig Lebenszeit bleibt?
Am letzten Abend unseres Urlaubs auf La Palma standen wir gerade auf dem Dach unseres Hauses, als es anfing zu regnen. Ein sensationeller Regenbogen spannte sich quer über den Himmel und über uns. Das war ein atemberaubend wunderschöner Moment. Diesen Moment möchte ich gerne verschenken!

www.chrispaul.de

Foto: Chris Paul

Foto: Chris Paul

Chris Paul ist seit 20 Jahren Trauerbegleiterin und leitet das Trauerinstitut in Bonn. Mehr Informationen über Chris Paul

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